Kolumne Ule Rolff liest … Salman Rushdie, Mitternachtskinder

Ule Rolff

Salman Rushdie verknüpft die Geschichte des unabhängigen Indien mit der Entwicklung des Jungen Saleem Sinai, beide geboren um Mitternacht am 15.August 1947.

Dieses Buch ist ein reiner Genuss für Menschen, die langsame Bücher lieben, eine Orgie von Abschweifungen und Anspielungen, eine Mischung aus Mythologie, Märchen, Geschichte, Politik und indischer Küche – Bollywood für das innere Auge, aber immer verbunden mit der Gefahr sich zu verlieren in der Fülle von Gerüchen, Geräuschen und Bildern – das große Kino setzt zuweilen den Überblick aufs Spiel.
Ironie und Genuss bleiben mir im letzten Viertel des Romans jedoch quer im Halse stecken vor der unsäglichen Brutalität, die es in der Geschichte (und Gegenwart) Indiens gegeben hat und die Rushdie nicht unterschlägt.

Einen besonderen Reiz für Autorinnen bieten Textpassagen, in denen Rushdie den Leserinnen Einblick in die Gedankenwelt seines Erzählers als Autor erlaubt. Er scheint uns damit eigene Strategien und Zweifel zu enthüllen.

Auf Seite 678 hadert er zum Beispiel mit seinem Höhepunkt: „ (…)Ein Höhepunkt sollte plötzlich zu seinem himalajahohen Gipfel ansteigen, ich aber habe nur noch Fetzen in der Hand und muss mich ruckweise auf meine Krise zubewegen wie eine Marionette an einem zerrissenen Faden. So hatte ich es nicht geplant, aber vielleicht ist die Geschichte, die man zu Ende bringt, niemals die, die man begonnen hat.“

mitternachtskinderWenn Saleem seiner verliebten Test“leserin“ Padma das just Geschriebene vorliest, lassen ihre Reaktionen ihn über die Textgestaltung nachdenken. Nicht dass er sich wesentlich beeinflussen ließe, aber er begründet Entscheidungen, unterschlägt nicht die Kritik an „Unmoralischem“ oder motiviert zum Weiterlesen, indem er bevorstehende Spannung ankündigt (was – ich gestehe – streckenweise auch für mich durchaus nötig war).

Häufig wechselt er innerhalb der Erzählerperson die Perspektive: Mal spricht er von Saleem als „Er“, mal als „Ich“ und erzeugt ein unerhört facettenreiches Bild seines Protagonisten, von innen und außen zugleich sichtbar, kubistisch zerlegt und doch auf besondere Weise vollständig.

Insgesamt ist dieses Buch ein opulentes Liesmahl für Menschen, die gerade Urlaub machen oder sonst nichts anderes zu tun haben als zu lesen. Für mich als Berufstätige und Teilzeitautorin eine Art der Freizeitgestaltung, die sich zum dritten Beruf auswächst – nicht dranbleiben heißt kündigen.

Das Buch: Salman Rushdie, Mitternachtskinder
btb-Verlag, aus dem Englischen übersetzt von Karin Graf

© Ule Rolff